Was heisst denn hier verhältnismässig?

Erfahrungsbericht einer Neustadtbewohnerin

Gisi

Ich wohne mit meiner Familie gegenüber dem Hinterhof der GISI, dem besetzten Wohn- und Kulturhaus am oberen Ende der Altstadt. Grundsätzlich störe ich mich nicht daran; im Alltag sind die Besetzer unauffällig, tragen zur Diversität der Stadtbewohner bei.

Ich störe mich jedoch an der Rücksichtslosigkeit, mit der dort Partys gefeiert werden. Letztes Jahr war es Corona bedingt ruhiger, dieses Jahr zum Teil unerträglich. Trotz nächtlicher Kälte ist kein Ende des Lärms in Sicht, ebenfalls Corona bedingt finden selbst im Spätherbst die Anlässe draussen statt. Vor Kurzem schallte die Musik in einer gewaltigen Lautstärke durch die Gasse; die Bässe liessen unsere Wohnzimmerfenster erzittern. Anrufe bei der Polizei kann man sich sparen, die Antworten variieren zwar von der Wortwahl her, sind aber inhaltlich immer dieselbe: «Wir können nichts tun».

Mein Mann und ich wenden uns an Stadträtin Cometta. In ihrer Antwort auf die Anfrage anerkennt sie das Problem, ich zitiere aus der Mail: «Mit ihrem Anliegen machen Sie mich auf die jahrelangen Emissionen aufmerksam, die von der Liegenschaft General-Guisan-Strasse 31 ausgehen. Gerne nehme ich hierzu Stellung: Die von Ihnen geschilderte Problematik ist bekannt.» «…» Weiter führt sie aus: «Die General-Guisan-Strasse 31 ist seit bald 25 Jahren besetzt und gilt in der Hausbesetzer- und Squatter-Szene als ein selbstdeklariertes Bollwerk gegen die Herrschenden und den Staat. Die Eskalationsbereitschaft der Hausbesetzenden ist hoch und dementsprechend heikel sind polizeiliche Interventionen, die im Rahmen der Verhältnismässigkeit auszufallen haben.» «…»

Verhältnismässigkeit wird bei Einsätzen der Stadtpolizei grossgeschrieben. Nicht nur die Einsätze bei besetzen Häusern müssen verhältnismässig sein, sondern auch diejenigen bei Partyproblemen in der Steinberggasse und bei illegalen Konzerten auf dem Kirchplatz. Aber ist es verhältnismässig, dass Anwohner:innen der GISI sich Lärmschutzfenster einbauen lassen und mit White Noise Geräten schlafen? Ist es verhältnismässig, dass Klimaanlagen installiert werden, um bei warmem Wetter des Lärmes wegen die Fenster nicht öffnen zu müssen? Ist es verhältnismässig, dass mindestens drei Anwohner:innen der GISI  – soweit mir bekannt  – sich mit dem Gedanken tragen wegzuziehen? Verhältnismässigkeit in Ehren, aber vielleicht hätte man bei der GISI nicht «bald 25 Jahre» zuwarten sollen.